Smart Investor im Gespräch mit Prof. em. Dr. Erich Weede, Träger der ROLAND BAADER-Auszeichnung 2022, über Geostrategie, Kapitalismus und Freiheit
Smart Investor: Herr Prof. Dr. Weede, die Welt hat sich seit Corona und dem Ukrainekrieg rapide verändert. Es wird sogar bereits davon gesprochen, die Wirtschaft auf Krieg umzustellen. Hätten Sie einen solchen kulturellen Rückfall, auch und gerade in Europa, für möglich gehalten?
Weede: Nein. Die Wirtschaft auf Krieg umzustellen, das hat offensichtlich hauptsächlich mit der Ukraine zu tun. Natürlich ist der russische Angriff auf die Ukraine bedauerlich, aber mich persönlich beunruhigt noch mehr die westliche Reaktion. Diese scheint mir im Wesentlichen geprägt von dem Rückblick auf die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Man scheint vergessen zu haben, dass wir nun im Atomzeitalter leben. Wir sollten uns eher daran erinnern, wie wir es geschafft haben, den Kalten Krieg ohne Atomtod zu beenden.
Smart Investor: Die aktuelle Dynamik ist überaus erschreckend. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Sicherheitsmechanismen der Nachkriegszeit versagen?
Weede: Während des Kalten Kriegs verfügten sowohl die Amerikaner als auch die Sowjets über Atomwaffen. Damals war im Grunde genommen die Welt und vor allem Europa stabil aufgeteilt. Entscheidend dabei war die Einigkeit darüber, was nicht passieren darf: zum einen keine direkte Konfrontation amerikanischer und sowjetischer Truppen und zum anderen kein Einsatz von Nuklearwaffen. Aufgrund der stabilen Gebietsaufteilung in Europa hat man nicht darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn es zu einer größeren Verschiebung käme. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts gab es eine riesige Grenzverschiebung von der Werra bis kurz vor St. Peterburg. Seitdem scheint man im Westen zu glauben, dass ein beliebiges Zurückdrängen Russlands möglich sei. Dies halte ich für unrealistisch und potenziell selbstmörderisch. Ein nuklearer Schlagabtausch zwischen dem Westen und Russland könnte das menschliche Leben auf der Erde gefährden. Mich beunruhigt, dass viele unserer Politiker wie Frau Baerbock oder Frau Strack-Zimmermann keine Angst vor einem Atomkrieg haben.
Smart Investor: Im Moment schauen wir gebannt nach Russland und in die Ukraine – aber ist nicht die weitere Entwicklung Chinas das relevantere Thema?
Weede: Richtig, aber wir müssen zunächst einmal den Ukrainekrieg überleben. Auf kurze Sicht besteht die Gefahr, dass die westliche Rüstung die Ukraine so sehr stärkt, dass Putin mit einer konventionellen Niederlage rechnen muss. In dem Fall erwarte ich, dass er Nuklearwaffen einsetzen wird. Putin hat ja schon angedeutet, womit er sich zufriedengeben würde, nämlich mit der Annexion der Gebiete Saporischschja, Donezk, Luhansk und Cherson. Die Rest-Ukraine wird sich natürlich erst nach einer militärischen Niederlage damit abfinden. Wir können den Ukrainekrieg nur überleben, wenn es zumindest zu einem halben Sieg Russlands kommt. Auf lange Sicht ist aber nicht Russland das Problem des Westens, da es als Wirtschaftsmacht verhältnismäßig bescheiden ist. Die Chinesen hingegen sind wirtschaftlich stark und können auch militärisch erstarken, wenn sie entsprechend aufrüsten. Russland spielt langfristig eine Rolle, weil es über etliche Bodenschätze verfügt. Es wird nicht zuletzt durch die westliche Unterstützung der Ukraine in die Arme Chinas getrieben.
Smart Investor: Gehen wir einmal weg von der Außenpolitik. Würden Sie unseren Eindruck bestätigen, dass der Alltag hierzulande inzwischen sehr politisiert und ideologisch geprägt ist? Können Sie ggf. die Weichenstellungen identifizieren?
Weede: Große Teile der Intellektuellen haben sich seit der 1968er-Bewegung der Illusion einer ziemlich dummen Kapitalismuskritik verschrieben, die meist noch nicht einmal durch falsche Theorien, sondern eher durch die Abwendung vom ökonomischen Denken überhaupt gekennzeichnet ist. Dabei ist es zu einem Marsch durch die Institutionen gekommen, sodass wir jetzt viele Intellektuelle haben, die mit den Grünen sympathisieren. Ich halte die Grünen für die Partei, die am wenigsten realistisch denkt, und deshalb für die gefährlichste Partei.
Smart Investor: Im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft ist nun sogar wieder der Sozialismus auf dem Vormarsch und wird uns allen Ernstes als klimaschützendes Erfolgsmodell gepriesen. Wie erklären Sie sich dieses Momentum nach all den negativen Erfahrungen?
Weede: Offensichtlich ist man im grünen Milieu überhaupt nicht über die Realitäten informiert. Zu den Realitäten gehört, dass der Umweltschutz in kommunistischen Staaten ganz klein geschrieben wurde. Erfolge gab es da nicht. „Erfolge“ hatte der Kommunismus eigentlich nur dabei, Menschen abzuschlachten. Der amerikanische Politikwissenschaftler Rudolph Rummel hat in seinem Buch „Death by Government“ belegt, dass unter kommunistischen Regierungen ca. 100 Millionen Menschen umgekommen sind. Ich denke, man muss seinen Verstand schon in Dauerurlaub geschickt haben, um zu glauben, dass man von einem derartigen Regime irgendetwas Positives lernen könnte. Der Antikapitalismus bei Grünen und Linken scheint mir auf solider Unkenntnis selbst grober Fakten zu beruhen.

Smart Investor: In dem Maße, wie zu einer Überwindung der Marktwirtschaft bzw. deren völliger Verstümmelung durch weitere Prädikate – ökologisch, gerecht, klimafreundlich etc. – aufgerufen wird, scheint unser Wohlstand zu sinken. Was würden Sie jenen, vor allem auch jungen Leuten zurufen, wenn es um die Frage „Markt oder Befehl“ geht?
Weede: Der Markt ist vielleicht deshalb für junge Menschen nicht so attraktiv, weil man dort auch scheitern kann. Auf dem Markt muss man sich bewähren: Man muss Leistungen und Fähigkeiten anbieten und ist auf hinreichende Nachfrage nach den eigenen Talenten angewiesen. Das kann Angst hervorrufen und es macht den Kapitalismus unsympathisch, wobei wir meilenweit von einem ungezügelten Kapitalismus entfernt sind. Der Staat verspricht dagegen immer alles Mögliche und die Leute vergessen, dass Wohltaten, die der Staat verteilt – und in unserem Staat werden eine Menge Wohltaten verteilt –, auch von jemandem erwirtschaftet werden müssen. Gerade die jungen Leute vergessen, dass in einem Sozialstaat mit unserer Altersstruktur der Sozial- und Steuerstaat im Wesentlichen zu ihren Lasten geht.

Smart Investor: Der Sozialismus erzeugt also ein Wir-Gefühl, obwohl die meisten, von den Funktionären abgesehen, viel schlechter leben als in jeder Marktwirtschaft?
Weede: Ja, und wir dürfen auch nicht vergessen, dass ein großer Teil der beruflich erfolgreichen Intellektuellen im öffentlichen Dienst ist. Verhältnismäßig wenige Grüne sind in der freien Wirtschaft erfolgreich gewesen. Dies erklärt auch, warum wir dort eine gewisse Wirtschaftsblindheit haben.
Smart Investor: Besonders gravierend, insbesondere für breite Schichten, ist der Wohlstandsverlust durch eine Hochinflation. Die Massenmedien benennen ja den Ukrainekrieg oder Spätfolgen von Corona als Grund. Wie bewerten Sie die Ursachen der aktuellen Preissteigerungswelle?
Weede: Die Auswirkungen von Corona können hier fast vernachlässigt werden. Bei dem Krieg in der Ukraine ist es so, dass er und mehr noch der durch westliche Sanktionen eröffnete Wirtschaftskrieg gegen Russland natürlich zeitweise die Energiepreise und auch die Nahrungsmittelpreise hochgetrieben haben – aber ein großer Teil der Inflation hängt mit der Staatsverschuldung und der EZB-Politik zusammen. Wichtiger Vorlauf der Inflation ist meines Erachtens nicht die Corona-Krise, sondern die Eurokrise. Diese konnte natürlich nur auftreten, weil wir eine zu große Währungsunion aus so grundverschiedenen Staaten gebildet haben. Das war eine schlechte Idee, unter der wir noch heute leiden.
Smart Investor: Wie ist Ihre Haltung zum klassischen Liberalismus im Allgemeinen und der Österreichischen Schule im Besonderen?
Weede: Zum Liberalen bzw. Freiheitlichen habe ich erst spät gefunden. Das war in den 1980er-Jahren, als ich mich mit der Erfindung des Kapitalismus und der Überwindung der Massenarmut beschäftigt habe. Wenn ich eine ganz kurze Antwort auf die Frage geben soll, warum Europa die Massenarmut überwinden konnte, dann würde ich sagen, weil wir in Europa mehr wirtschaftliche Freiheit als andere Zivilisationen zugelassen haben.
Smart Investor: Sie sind Preisträger der ROLAND BAADER-Auszeichnung des Jahres 2022. Was verbindet Sie mit Roland Baader und was bedeutet dieser Preis für Sie?
Weede: An Roland Baader bewundere ich, dass er versucht hat, die staatskritischen Erkenntnisse der Österreichischen Schule und der Public-Choice-Schule einem breiten Publikum verständlich zu machen. Das ist in einer Demokratie notwendig, denn hier hängt ja vieles von den Entscheidungen der Wähler ab. Der Naturzustand des Wählers ist die rationale Ignoranz, weil in einer Massengesellschaft die einzelne Stimme ein relativ geringes Gewicht hat und die Informationskosten im Bereich der Politik für die meisten Berufstätigkeiten hoch sind. Daher ist es der Normalzustand, schlecht informiert zu sein. Angesichts des verschwindend geringen Gewichts einer einzelnen Stimme gibt es auch keinen Grund, sich mit Politik zu beschäftigen, um rational abzustimmen. Roland Baader gehörte zu denjenigen, die angetreten sind, gegen diese solide Unkenntnis des Wählers anzukämpfen. Dies hat er im Rahmen seiner Möglichkeiten in vorbildlicher Weise getan. Im Roland-Baader-Preis sehe ich eine Aufforderung, seinem Vorbild zu folgen und dadurch die Demokratie zu stärken.
Eines der Probleme der modernen Ökonomie sind die mathematischen Methoden, mit denen die meisten Gedanken vermittelt werden, was für Normalverbraucher aber völlig unverständlich ist. Dennoch halte ich im Gegensatz zu fast allen „Österreichern“ die Ökonometrie zwecks statistischer Überprüfung von Theorien für überaus wichtig. Insbesondere Ludwig von Mises’ Ablehnung des Falsifikationsgedankens kann ich nicht teilen. Hayek dagegen war auch ein bisschen unter dem Einfluss von Karl Popper. Methodologisch stehe ich daher Hayek näher als Mises. Wirtschaftspolitisch aber stehe ich Mises näher als Hayek, denn Mises hat klarer erkannt, dass der Sozialstaat eine schiefe Ebene ist, die uns immer weiter von einer freiheitlichen Wirtschaft wegführt und langsam in den Sozialismus hineinrutschen lässt.
Smart Investor: Vielen Dank für Ihre sehr interessanten Ausführungen.

Prof. em. Dr. Erich Weede (Jahrgang 1942) ist diplomierter Psychologe, promovierter und habilitierter Politikwissenschaftler und wurde zum Professor für Soziologe nach Köln und Bonn berufen. Schwerpunkte seiner langjährigen Forschungs- und Lehrtätigkeit waren die Kriegsursachenforschung, die Überwindung der Massenarmut im Zivilisationsvergleich und Studien zum Wirtschaftswachstum und der Einkommensverteilung. Er hat fast 300 wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, darunter elf Monografien. Prof. Dr. Weede erhielt den Richardson Lifetime Achievement Award (2004), die Hayek-Medaille der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft (2012) sowie die Roland Baader-Auszeichnung (2022).