Sommer des Missvergnügens

Titelbild: © krisda ponchaipulltawee/EyeEm – stock.adobe.com

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Über große Risiken & unverhoffte Chancen

Rezession

Die Zahl klingt trocken, sie signalisiert jedoch eine möglicherweise dramatische Entwicklung: 44% der Ökonomen erwarten in den nächsten zwölf Monaten eine Rezession. Im April lag die Rezessionserwartung der Experten noch bei 28% und im Januar nur bei 18%. Die Einschätzungen verschlechterten sich damit über die letzten Monate rapide. Seit 2005 befragt The Wall Street Journal Wirtschaftskenner nach ihren Rezessionserwartungen und selbst im Dezember 2007, als die heftige Rezession der Jahre 2007 bis 2009 begann, lag der Wert nur bei 38%.

Die amerikanische Fed wird kaum helfen, diese Stimmung aufzuhellen. Fed-Chef Jerome Powell spricht heute und morgen vor dem US-Kongress. Vergangene Woche erst verkündete er, dass er den Leitzins erneut erhöhen werde. Das ist gut für den US-Dollar, leider aber Gift für die Aktienkurse. Powell, bekennender Anhänger seines legendären Amtsvorgängers, des Zins-Hardliners Paul Volcker, nimmt nicht länger Rücksicht auf die Stimmung an der Börse. Er will die Inflation, die in den USA zuletzt bei über 8% lag, in den Griff bekommen, und er wird erst aufhören, die Zinsen zu erhöhen, wenn die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten signifikant ansteigt.

Das kann man gut finden oder verwegen. Man mag daran glauben, dass Powell seiner Ankündigung auch das nächste Mal Taten folgen lassen wird, oder nicht. Als smarter Investor sollte man aber vor allem eines tun: Genauestens in das eigene Depot schauen und gegebenenfalls die Reißleine ziehen.

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Der Handel ist mit hohen Risiken verbunden.


Reaktion

Die Aktienkurse fallen seit Tagen und Wochen. Sie sind weit im überverkauften Bereich und prompt setzten sie gestern zu einem Kurssprung an: Es ist der erste Handelstag an der Wallstreet nach dem verlängerten „Juneteenth“-Wochenende, das seit 2021 in den USA gefeiert wird. Der S&P 500 gewann am Dienstag 2,4% und der Dow Jones Industrial legte 2,1 % zu. Doch machen wir uns nichts vor. Im Gesamtbild sind diese Kursgewinne kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Markt spielt die Rezession. In diesem Umfeld werden sich auch die am besten geführten Unternehmen nicht in eine rosige Parallelwelt beamen können, so wie es im Politikbetrieb gang und gäbe ist. Unternehmer und Vorstände müssen in der Realität bleiben, und deren derzeit wahrscheinlichste Ausformung spiegelt sich in den großen Kurstrends.

Die Fed, als noch immer mächtigste Notenbank der Welt, strafft die zuvor ultralaxe Geldpolitik immer weiter und nimmt dabei wenig Rücksichten – auf die dadurch immer weiter unter Druck gesetzte EZB schon gar nicht. Dazu kommt ein grundsätzliches Problem der Geldpolitik. Ist sie locker, wirkt sie nur indirekt und nicht immer dort, wo sie soll. Wird sie gestrafft, wirkt sie nicht wie ein Skalpell, sondern wie eine Dampfwalze, die neben der Inflation auch gleich noch die Konjunktur abräumt. Für die Aktienmärkte wird das drohende Szenario im Wallstreet-Jargon „Double Whammy” genannt: Schon durch die steigenden Zinsen wird die Aktienanlage unattraktiver und zugleich senken die Unternehmen auch noch ihre Gewinnaussichten, was die Kurse weiter unter Druck bringt.

Eine „sanfte Landung” der Wirtschaft dürfte daher bloßes Wunschdenken bleiben. Jedenfalls ist der Fed seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Umfeld hoher Inflationsraten noch nie ein solches Soft-Landing gelungen. Zwar mögen Investoren und Trader genau darauf hoffen – auch Jerome Powell hofft –, aber rechnen sollten sie damit nicht. Dafür stehen die Chancen zu schlecht. Nervenschonender wird es sein, sich in diesem Sommer des Missvergnügens auf die Realität zu besinnen und sein Pulver trocken zu halten. Gehen Sie besser baden, bevor Sie baden gehen! Im Herbst würde man dann wenigstens noch über die Mittel verfügen, um zugreifen zu können, falls sich in der Fed ein Sinneswandel Richtung Entspannung abzeichnet. „Never fight the Fed“ ist jene Börsenweisheit, die auch dieses Jahr nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt hat.

Realität

Kryptoland ist abgebrannt. Seit seinem Höchststand im November hat der Bitcoin rund 70% seines Kurswertes abgegeben. Einige konkurrierende „Kryptowährungen“ lösten sich sogar nahezu vollständig in jene Luft auf, aus der sie bestanden. Wieder andere sind durch Betrügereien ins Gerede gekommen. Die Krypo-Handelsplattform Coinbase (WKN A2QP7J) will 1.000 Mitarbeiter entlassen, so heißt es. Das wäre fast jeder fünfte Mitarbeiter. Der Coinbase-Aktienkurs verfiel über die vergangenen zwölf Monate hinweg um 70% und das Unternehmen könnte sich inzwischen in Coinbaisse umbenennen. Vor allem bei jenen Investoren, die sich zu lange der Realität verweigert haben, dürfte das tiefe Krater in den Depots hinterlassen haben. Und diese Realität lautet nun einmal: Kryptowährungen sind kein Wertaufbewahrungsmittel und sie sind kein Goldersatz. Bisher sind sie lediglich Spekulationsobjekte mit denen märchenhafte Vermögen gemacht wurden, aber auch reichlich Lehrgeld zu bezahlen war. Über das Verhältnis von Bitcoin zu Gold erfahren Sie auch etwas im brandneuen Smart Investor 7/2022, der zum Wochenende erscheint.

Resignation

Zum reinen Spekulationsobjekt wird der Euro wohl nicht herabsinken, obwohl sich auch Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), weiter der Realität verweigert. O-Ton Lagarde: „Die Pandemie hat dauerhafte Schwachstellen in der Wirtschaft des Euroraums hinterlassen, die in der Tat zu einer ungleichmäßigen Übertragung der Normalisierung unserer Geldpolitik auf die verschiedenen Länder beitragen.”

Wir sagen es deutlich: Nicht die Pandemie hat dauerhafte Schwachstellen hinterlassen, die zu einer ungleichmäßigen Übertragung beitrugen. Die EU-Politik im Allgemeinen und die EZB im Besonderen haben diese Schwachstellen verursacht. Die Pandemie hat sie allenfalls sichtbar gemacht. Aber die EZB will ihre Währungspolitik fortsetzen: „Dem wolle man mit einer flexiblen Reinvestition der Tilgungsbeträge fällig gewordener und im Rahmen des PEPP erworbener Anleihen begegnen. Zudem bereite man ein neues Anleihekaufprogramm vor, mit dem eine Fragmentierung des Euroraums verhindert werden könne.”

Mit anderen Worten: Weiterhin sollen die Steuereinnahmen der Bürger dazu verwendet werden, klamme Staatshaushalte einiger südlicher Euro-Mitglieder zu stützen. Bürgern, Investoren und Tradern der Nettoeinzahler-Staaten bleibt bei so viel Lernresistenz nur die Resignation. Sie können die EZB-Führung nicht abwählen, aber sie müssen für deren Chaoskurs bezahlen.

Dabei wird diese Politik der EZB sogar funktionieren, zumindest für ein Weilchen. Abermals wird mit viel, mit sehr viel Geld Zeit gekauft werden und abermals wird keinerlei Versuch unternommen werden, diese Zeit sinnvoll zu nutzen. Irgendwann werden die Fliehkräfte der Währungsunion zu groß werden. Dann wird beispielsweise die Staatsverschuldung Italiens derart angestiegen sein, dass Marktteilnehmer nicht länger glauben, dass Deutschland und seine wenigen Mitstreiter das italienische Defizit noch finanzieren können oder wollen. Lange Zeit wird also nichts passieren, dann aber wird es schnell gehen. Irgendetwas in der schönen Euro-Fassade wird reißen und dahinter wird die bittere Realität zum Vorschein kommen. Der Euro, wie wir ihn kennen, wird in diesem Moment Geschichte sein.

Reanimation

Wo bleibt das Positive? Hier ist es: Scott Galloway ist Bestseller-Autor und Professor an der Stern School of Business der New York University. Er liebt das offene Wort, nannte die staatliche Antwort auf die Covid-Pandemie „einen Schwindel”, zeigte sich schon früh von Elon Musks angeblichem Twitter-Engagement wenig beeindruckt und bezeichnete Facebook-Boss Mark Zuckerberg als die „mächtigste, gefährlichste Person der Welt”. Jetzt erklärt Scott Galloway, eine tiefe Rezession sei ein großartiger Moment, um ein Start-Up zu gründen. „Wenn du ein Geschäft in einer Rezession startest, ist das billiger. Alles, von der Immobilie über Beschäftigte bis zur Technik, ist weniger teuer”, so der Professor. Zugleich sei ein Start bei schlechter Konjunktur ein Härtetest für das Geschäftsmodell. Wenn es dann mit der Wirtschaft wieder aufwärts gehe, dann hebe die gerade gegründete Firma richtig ab.

Zunächst klingt die These schräg. Doch Galloway ist kein Spinner; bereits anderen Ökonomen ist aufgefallen, dass großartige Firmen häufig in wirtschaftlichen Krisenzeiten gegründet wurden, bekannte Beispiele sind Microsoft und Apple. Sogar die erste Ausgabe des Smart Investor erschien nahezu punktgenau zum Ende der Millennium-Baisse der Jahre 2000 bis 2003. Für Aktien-Investoren bedeutet das: Es brechen spannende Zeiten an. Die Cash-Schatullen bleiben zwar noch geschlossen, aber die Augen sollten offen sein. Gerade in diesem Sommer des Missvergnügens könnten die Börsenstars von morgen entstehen.

Rutschpartie (Zu den Märkten)

Während sich im DAX 40 in der Vorwoche noch ein zarter Stabilisierungsversuch in der Nähe des Mai-Tiefs andeutete (vgl. Abb., grau-blaue Waagrechte), ging es danach unmittelbar wieder kräftig nach unten. Dabei schwollen die Umsätze auch deshalb stark an, weil der vergangene Freitag ein sogenannter Hexensabbat war, an dem besonders viele Terminkontrakte auslaufen, was oft zu einem nervösen Handel um den Settlement-Kurs führt. Danach erholte sich der Markt zwar zwei Tage lang mit dünnen Umsätzen, scheiterte aber von unten an der vorerwähnten ehemaligen Unterstützungslinie, die jetzt als Widerstand wirkt. Damit war die Erholung nicht mehr als ein klassisches charttechnisches Pull-Back. Mit dem heutigen Handelstag folgte per Redaktionsschluss ein weiterer Kursrutsch um rund 2%. Wenn wir weiter oben geschrieben haben, dass man sich nicht gegen die Fed positionieren sollte, dann gilt diese Aussage regelmäßig auch für den Trend. Eigentlich gibt es nur zwei Situationen, in denen man dies wagen sollte. Entweder sind die Kurse stark in Trendrichtung überreizt, was im Moment noch nicht der Fall ist, oder es zeichnet sich ein Ende des Trends ab. Beide Situationen zeigen sich in aller Klarheit aber regelmäßig erst in der Rückschau.

Musterdepots & wikifolio

In der Rubrik Musterdepots & wikifolio berichten wir heute über die Entwicklung in unseren Musterdepots sowie in unserem wikifolio „Smart Investor – Momentum“. Sie können sich dort durch einfaches Blättern einen schnellen Überblick über die Transaktionen der letzten Wochen verschaffen. Um diesen Bereich lesen zu können, müssen Sie Abonnent des Smart Investor Magazins sein und sich auf der Smart-Investor-Website einloggen. Sollten Sie Ihr Passwort vergessen haben, fordern Sie bitte ein neues bei abo@smartinvestor.de an.

Fazit

Bislang ist der Börsensommer 2022 alles andere als vergnüglich und es gibt im Moment keine Hinweise darauf, dass sich daran rasch etwas ändern würde. Immerhin lachte außerhalb der Börse tageweise die Sonne und hat uns wenigstens etwas echtes Sommerfeeling beschert.

Frank Sauerland, Ralph Malisch

Smart Investor 06/2022:

Titelstory: Es grüßt der Bär

Beteiligungsgesellschaften: Die Branche im Überblick – samt großem Tabellenwerk

Turnaround: Offshore-Ölservicesektor vor dem Comeback?

Healthcare & Biotech: Gute Eintiegschancen nach der Sektorrotation?

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Die Charts wurden erstellt mit Guidants und Tai-Pan von Lenz+Partner. Diese Rubrik erscheint jeden Mittwochnachmittag.

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