Der Fahrplan

Titelbild: © EdNurg – stock.adobe.com

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Der Zins fährt hoch, der Gasdruck runter

Hauptbahnhof Wallstreet

Da liegt sie, unbeachtet, unter dem Teleprompter: Powells Terminkladde. Die hat er wohl vergessen, als ihn der Präsident anrief und den Fed-Chef auf einen Sprung hinüber ins Weiße Haus bat. Schnell ist die Kladde aufgeschlagen und da stehen sie, tintenblau auf weiß, die künftigen Zinserhöhungstermine der USA.   S T O P P !   Das war frei erfunden, natürlich. Aber, und das ist nicht erfunden, so geht der Traum manches Wallstreetiers: Heute schon den Zinsfahrplan zu kennen, den die US-Notenbank in den kommenden Monaten abfahren wird, um die immer noch schäumende Inflation in den Griff zu bekommen.

Wir vom Smart Investor dokumentieren hier und jetzt die wahrscheinlichen Abfahrtszeiten und die Steigungshöhen auf dem vor uns liegenden Weg. Erwartet wird noch in diesem Monat eine Erhöhung um 0,75 Prozentpunkte. Die Analystenmehrheit geht dann von einer erreichten Zinshöhe von 2,25%-2,50% aus. Im September folgt der nächste Schritt um 0,75 Prozentpunkte auf dann 3,25%-3,50%. Im November werden derzeit 0,25 Prozentpunkte Zuschlag erwartet, was das Niveau auf 3,25%-3,5% hievt. Der Dezember beschließt den Fahrplan 2022 mit einem weiteren Nachschlag in dieser Höhe auf dann 3,5%-3,75%.

Das allerdings sind (Markt-)Erwartungen und für Aktienanleger sind solche mehrheitlichen Erwartungen eine wertvolle Orientierungshilfe. Denn exakt diese Erwartungen sind Stand heute in den Kursen „drin”. Als Anleger kann man diese Erhöhungen als zu hoch empfinden oder als zu niedrig. Tatsache bleibt: Sollte Jerome Powell sich an den Fahrplan halten, bliebe die Börse davon ziemlich unbeeindruckt. Beeindrucken lassen sich Börsianer nur mit Neuheiten, und das heißt im konkreten Fall mit Abweichungen vom Fahrplan.

Anschlussbahnhof Apple

Eine solche Neuheit ist z.B. diese hier: Apple will sich laut Bloomberg künftig mit Personaleinstellungen zurückhalten und beim Ausgabenwachstum auf die Bremse treten. Man fürchte einen Wirtschaftsabschwung, und da will man nicht mit Volldampf hineinrauschen.

Das war ein Paukenschlag zum Anfang der Woche (vgl. Abb., rote Markierung)! Prompt sank der Apple-Kurs und mit ihm ging es auf breiter Front bergab. Dann war die Nachricht verdaut und es kam zur Gegenbewegung – ein typischer Mechanismus: Neuigkeiten beeindrucken, zunächst. Dann wird zur Tagesordnung übergegangen. Bei steigenden Zinsen wird es allerdings noch mehr ähnliche Neuigkeiten geben: zurückgenommene Gewinnschätzungen, Eintrübungen, Rezessionssorgen. Es sind die typischen Begleiterscheinungen einer Notenbank mit forschem Zinserhöhungsfahrplan. Zumindest die Leser des Smart Investor Weekly werden nicht überrascht sein, sondern sich und ihre Depots darauf vorbereitet haben.

Sackbahnhof Frankfurt

Zumal auch Powells Amtskollegin Christine Lagarde, Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), durch den Fed-Fahrplan unter Zugzwang gerät. Aus informierten Frankfurter Kreisen erfahren wir, dass sich die EZB genötigt sehen könnte, die Eurozinsen um mehr als die erwarteten 0,25% zu erhöhen. Würde der Euro-Zinszug am Donnerstag tatsächlich mit einem erhöhten Zinsdruck von 0,50% aus dem Frankfurter Sackbahnhof dampfen, wäre das für die Börsianer wohl eine ähnliche Überraschung wie am Montag die Apple-Durchsage. Auch die Frankfurter Überraschung dürfte anschließend erst einmal in fallende Kurse übersetzt werden.

Im Korrekturmodus

Deutschland kann dumm, kein Zweifel. So bemerkt die „Elite des Landes“, die Regierung, erst jetzt, dass die verhängten Gas-Sanktionen das eigene Land mehr schädigen als Russland. Ursula von der Leyen soll retten, was noch zu retten ist, und die EU-Kommissionspräsidentin blickt prompt nach Baku. Das liegt in Aserbaidschan und dort gibt es Öl und Gas in rauen Mengen. Offensichtlich übt Baku auf Deutsche eine besondere Anziehungskraft aus. Schon die Wehrmacht wollte unbedingt dorthin, um abzupumpen. Allerdings kam kein Landser näher als 600 Kilometer an die sprudelnden Quellen heran. Damals, also 1943, gehörte Aserbaidschan zur Sowjetunion, und die Russenkrieger waren stärker als die Deutschen.

Nun rollt Ex-Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen nicht im Panzer, sie düst im Flieger heran. Und sie verschießt keine Granaten, sondern stellt deutsches und europäisches Geld ins Fenster, um einen Gas- und Pipelinedeal zu erreichen. Das unabhängige Aserbaidschan, das unser selbstverursachtes Gasproblem lösen soll, hat eine Grenze zu Russland … und ein Korruptionsproblem.

So wurde aktuellen und ehemaligen Mitgliedern des Europarats Lobbyarbeit für Aserbaidschan vorgeworfen – gegen Bezahlung. Auch zwei deutsche Politiker sahen sich Vorwürfen ausgesetzt. Das ist unschön. Schöner ist die Umschreibung derartiger aserbaidschanischer Sponsoring-Gepflogenheiten: Kaviar-Diplomatie. Wir haben keinen Zweifel, dass auch Wladimir Putin sich auf solche Diplomatie versteht und Kaviar zu servieren weiß. Im Zweifel so viel, dass gar kein Gas mehr durch die Röhre passt.

Endstation Schafott

Am morgigen Donnerstag (21.7.2022) soll die Wartung der Pipeline Nordstream 1 abgeschlossen sein und am Freitag werden wir es wissen: Fließt wieder russisches Gas durch die Röhre nach Deutschland und falls ja, wieviel? Die Antwort auf die Frage wird Kurse bewegen, sie entscheidet über Wohl und Wehe der deutschen Wirtschaft, und allein, dass sich die Regierung des Landes in eine Position hat manövrieren lassen, in der sich eine solche Frage überhaupt stellt, ist ein Armutszeugnis, ein Versagen in den Fächern Regierungskunst, Weitblick und Realitätssinn.

Auch wir kennen die Antwort auf die Freitagsfrage nicht. Die kennt im Moment nur der Kreml. Aber wir wissen den Eingang zu einem Lösungsweg und geben ihn hier zu Protokoll: Fehlt Gas, wird man mehr Strom brauchen. Erzeugt man mehr grundlastfähigen Strom, sinkt Putins Druckpotential. Drei Kernkraftwerke laufen noch in Deutschland. Lösung: Weiterlaufen lassen, Brennstäbe bestellen! Drei Kernkraftwerke sind erst vor Monaten abgeschaltet worden und reaktivierbar. Ob die Kraftwerksfachkräfte ihren vorgezogenen Ruhestand in Kneipen oder auf Kanapees verbringen, ist unerheblich. Ihr Wissen werden die Männer nicht verloren haben, und nun wird es ihnen vergoldet mit Gehaltsangeboten, welche Controllern Tränen in die Augen treiben. Volkswirtschaftlich macht das Sinn, der Umwelt dient es, dem Industriestandort und den Menschen in diesem, unserem Lande sowieso – Aktionären der einschlägigen börsennotierten Unternehmen natürlich auch.

Auf Russland gezielt, Kleinaktionäre getroffen

Wie wenig treffsicher die Bundesregierung in ihrer Sanktionspolitik ist, zeigt das Drama um die Gazprom-Aktie. Was als Schlag gegen Putin gedacht war, treibt deutschen Kleinanlegern, und nicht nur diesen, die Sorgenfalten auf die Stirn. Seit Ende Februar/Anfang März sind die bis dahin an westlichen Börsen gehandelten American Depositary Receipts (ADRs) vom Handel suspendiert. Die Originalaktie wird derweil wieder in Moskau gehandelt, und zwar zu Kursen, die umgerechnet rund 130% über dem zuletzt in Deutschland für die ADRs festgestellten Wert liegen. Clearstream hatte angekündigt, dass ADRs im Zeitraum vom 18.7. bis 31.7.2022 gegen die entsprechenden russischen Stammaktien umgetauscht werden können. Die Angelegenheit ist also eilbedürftig, weshalb wir uns entschlossen haben, das entsprechende Interview mit Value-Spezialist Swen Lorenz, das im kommenden Smart Investor 8/2022 erscheint, schon jetzt online zu stellen. In diesem Zusammenhang darf auch noch einmal auf die Einschätzungen der SdK Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V. verwiesen werden, die sich in einem Newsletter kompetent zu den jeweils aktuellen Entwicklungen äußert. Am gestrigen Dienstag, den 19.7., gab es dort zudem für Mitglieder ein Webinar, in dem zahlreiche Aspekte der ADR/GDR-Thematik beleuchtet wurden. Da wir im Moment davon ausgehen müssen, dass sich das Clearstream-Fenster zum 31.7. wieder schließt, werden wir für unsere Musterdepot-Position in Gazprom-ADRs den Umtausch unmittelbar einleiten. Allerdings haben wir bereits von Lesern das Feedback erhalten, dass insbesondere einige Discount-Broker wenig Neigung zeigen, in der Sache für ihre Kunden tätig zu werden. Das liegt allerdings außerhalb unseres Einflussbereichs. Möglicherweise kann man hier mit einem Hinweis an den Ombudsmann des Bundesverbands deutscher Banken e.V. https://bankenombudsmann.de/ einen positiven Impuls setzen.


Zu den Märkten

In der letzten Handelswoche konnte sich der DAX überzeugend von der Unterstützung im Bereich von 12.400 Punkten nach oben lösen (vgl. Abb., blaugraue Waagrechte). In diesen fünf Handelstagen legte er von seinen Tiefs rund 1.000 Punkte zu und kämpft aktuell mit dem Zwischentief vom 9. Mai (vgl. Abb., rote Waagrechte). Es ist stimmig, dass der Index hier im Vorfeld der morgigen EZB-Sitzung und des Pokerspiels um Nordstream 1 erst einmal seine Gewinne verdaut, bevor es zu kursbewegenden Neupositionierungen kommt. Wir sind also in einer Situation, in der es sowohl durch die markante Chartmarke von nun 13.400 Punkten als auch durch die markanten Ereignisse zu einem Richtungsentscheid mit anschließender Dynamisierung des Kursgeschehens kommen kann. Auch charttechnisch ist das Bild indifferent. Zum einen war das Abprallen von der Unterstützung bei 12.400 Punkten überzeugend in Form eines sogenannten Adam & Eve-Bodens, bei dem die Marke zunächst sehr ungestüm (März), im zweiten Versuch dann aber geradezu vorsichtig abwägend angesteuert wurde (Juli). Das gilt als mögliche Umkehrformation. Dennoch befindet sich der Markt nach Maßgabe der langfristigen Gleitenden Durchschnitte weiter in einem übergeordneten Abwärtstrend. Dieser würde allerdings auch weitere 1.000 Punkte Spielraum nach oben eröffnen, bevor es zu einer echten Richtungsentscheidung käme. Nach allfälligen Irritationen durch die morgige EZB-Sitzung und die Nordstream-1-Thematik wären also auch weitere Kursgewinne im Bereich des Möglichen. Das gilt perspektivisch sogar ganz besonders, falls sich die EZB weiter so zurückhaltend bei der Inflationsbekämpfung zeigt, und damit einer Flucht aus dem Euro im Rahmen eines echten Crack-up-Booms Vorschub leistet.

Musterdepots & wikifolio

In der Rubrik Musterdepots & wikifolio berichten wir heute unter anderem über das weitere Vorgehen bei den Gazprom-ADRs und über Neupositionierungen sowie über die Entwicklung in unserem wikifolio „Smart Investor – Momentum“. Sie können sich dort durch einfaches Blättern einen schnellen Überblick über die Transaktionen der letzten Wochen verschaffen. Um diesen Bereich lesen zu können, müssen Sie Abonnent des Smart Investor Magazins sein und sich auf der Smart-Investor-Website einloggen. Sollten Sie Ihr Passwort vergessen haben, fordern Sie bitte ein neues bei abo@smartinvestor.de an.

Fazit

Während die Fed längst auf den Zinserhöhungsfahrplan umgestellt hat, erfolgt der Startpfiff der EZB erst am Donnerstag, den 21.7. Wie schrill dieser ausfallen wird, ist aktuell aber noch ungewiss.

Frank Sauerland, Ralph Malisch

Smart Investor 07/2022:

Titelstory: Value Investments – Dicke Fische für Geduldige

Geopolitik: Mediales Geschacher um den Ukrainekrieg

Reichtum: Von Sündenböcken und Neiddebatten

Edelmetalle: Über Stagflation und die richtige Anlagestrategie

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Die Charts wurden erstellt mit Guidants und Tai-Pan von Lenz+Partner. Diese Rubrik erscheint jeden Mittwochnachmittag.

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