Interview
Smart Investor im Gespräch mit Manfred Hübner, Gründer und Geschäftsführer der sentix GmbH, über Mangelwirtschaft und Stimmungsschwankungen unter den Marktteilnehmern
Smart Investor: Herr Hübner, wenn Sie einmal ein Jahressentiment versuchen, wie würden Sie die aktuelle Stimmungslage für das Jahr 2023 an den Aktienmärkten beschreiben?
Hübner: Im Rahmen unserer Jahresumfrage erfassen wir auch die Einschätzungen der Anleger für das gesamte Jahr 2023. Und diese sind erstaunlich positiv: Die Zahl der Anleger, die Kursanstiege über 7,5% für den DAX erwarten, ist deutlich höher als Anfang 2022. Wenn man dann noch bedenkt, dass die meisten Anleger für 2023 eine Rezession und steigende Zinsen erwarten, ist dieser Optimismus für 2023 doch überraschend. Beim Blick auf andere Märkte zeigen sich nur geringe Unterschiede. Japan wird skeptischer, die USA positiver eingeschätzt. Allerdings sieht man in den Jahreserwartungen auch Effekte aus den steigenden Zinsen. Die Anleihemärkte werden von den Anlegern wieder als Anlageobjekte erkannt. Das strategische Interesse richtet sich im Jahr 2023 eindeutig auf die Zinsmärkte.
Smart Investor: Der aktuelle sentix-Jahresausblick steht unter dem Titel „Mangelwirtschaft“. Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Ursachen des Mangels?
Hübner: Da fallen uns zahlreiche „Mängel“ ein, weshalb wir den Titel auch bewusst so gewählt haben. Vom „Gas- und Strommangel“, der anscheinend in diesem Winter noch ausbleibt, über den „Mangel an Rohstoffen“, der aus der geringen Explorationstätigkeit der Konzerne rührt, dürfte uns mittelfristig vor allem der „Arbeitskräftemangel“ beschäftigen. Die immer besser sichtbare demografische Lücke zeigt sich dabei nicht nur in einer zu geringen Anzahl an Arbeitskräften, sondern zunehmend auch in einem steigenden Lohndruck. In Verbindung mit den ausufernden Sozialtransfers im Zuge von Corona und der Bewältigung der Energiekrise erscheint die Etablierung einer Preis-Lohn-Spirale nicht unwahrscheinlich, denn zunehmend mehr der in den letzten Jahren eingeführten staatlichen Instrumente zur sozialen Sicherung weisen automatische „Stabilisatoren“ bzw. Bindungen an die Inflationsrate auf. Wenn man dann ein notwendiges Lohnabstandsgebot zu den Sozialleistungen wahren will, dürfte die besagte Spiralwirkung wohl über kurz oder lang einsetzen.
Aber auch einen „Mangel an Erfahrung im Umgang mit Inflation und steigenden Zinsen“ sowie einen durch die restriktive Notenbankpolitik induzierten „Liquiditätsmangel“ sehen wir als kritische Punkte, welche Anleger im Jahr 2023 beachten sollten.
Smart Investor: Sie sehen die Mangelwirtschaft und die kommende Rezession als gravierender und hartnäckiger an als viele Kommentatoren. Was sind Ihre Argumente?
Hübner: Viele Marktbeobachter sind erstaunt, dass sich die Realwirtschaft trotz der widrigen Umstände durch den Ukrainekrieg, die Inflation, die steigenden Zinsen und die Güterknappheiten noch so gut behauptet. Das hat unseres Erachtens zwei Gründe. Zum einen haben die Notenbanken zur Hochzeit der Corona-Krise 2020 unfassbare Summen an Geld in die Wirtschaft gepumpt. Gleichzeitig konnten viele Menschen nicht wie üblich konsumieren und reisen. Eine hohe Sparquote war die Folge. Von dieser üppigen Liquidität und den noch gefüllten Konten der Menschen zehren wir. Zum anderen ist das Beschäftigungsniveau aufgrund des Arbeitskräftemangels hoch.
In beiden Sphären wird sich das Umfeld 2023 absehbar verschlechtern. Der „Ersparnismangel“ schränkt die Investitionsspielräume ein oder treibt die Zinsen weiter nach oben. Die hohen politischen Unsicherheiten führen zu einem „Auftragsmangel“ und setzen zusammen mit steigenden Löhnen die Margen der Unternehmen unter Druck. Einige Unternehmen werden diesem Umfeld nicht gewachsen sein, sodass auch Arbeitsplätze in Gefahr geraten.
Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen, welche die letzten Jahre deutlich unterdurchschnittlich war, beginnt zu steigen. Bislang fängt die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften von anderen Unternehmen die Menschen auf, welche durch Pleiten ihren Arbeitsplatz verlieren. Sollte diese Nachfrage erschöpft sein und die effektive Arbeitslosigkeit tatsächlich zu steigen beginnen, wirkt sich diese schnell verstärkend negativ auf das Konsumverhalten und die Investitionspläne der Unternehmen aus. Bei steigenden Inflationsraten sind gleichzeitig die Spielräume begrenzt, monetär gegenzusteuern.
Das Paradoxe an der aktuellen Situation ist also unseres Erachtens, dass es sehr lange dauert, bis die aktuellen Positivkräfte in der Realwirtschaft erschöpft sind. Wenn dies jedoch der Fall ist und sich die rezessiven Krisensymptome mehren, könnten diese sich in Verbindung mit Liquiditätsmangel und fehlender monetärer Unterstützung zu einem negativ verstärkenden Umfeld verdichten. Das würde es schwieriger machen, dass sich die ökonomischen Selbstheilungskräfte zügig wieder durchsetzen.
Smart Investor: Nach der OECD-Prognose ist Deutschland im Jahr 2023 das europäische Wachstumsschlusslicht. Sind wir wieder „der kranke Mann Europas“? Worin sehen Sie die wesentlichen Ursachen der deutschen Wachstumsschwäche?
Hübner: Die deutsche Politik lässt leider keine Möglichkeit aus, politische und ökonomische Unsicherheiten zu verstärken. Die ärgsten Auswüchse werden dann mittels planwirtschaftlicher Konzepte wie Preisbremsen und sogar Zwangsbewirtschaftung eingedämmt. Das ist teuer und ineffizient und wird das Wachstumspotenzial wohl nachhaltig beschädigen.
Smart Investor: Vor diesem Hintergrund ist die zuletzt beobachtete DAX-Stärke besonders eindrucksvoll. Irren die Marktteilnehmer oder sehen Sie bereits einen Silberstreif, den die OECD so noch nicht erkennt?
Hübner: Hier muss man die Dynamik der Stimmung einbeziehen. Ende September, als die „Gaskrise“ ihren Höhepunkt hatte, waren die Anlegererwartungen speziell für den DAX exzessiv niedrig. Das allein stellt schon eine überdurchschnittliche Erholung in Aussicht. Hinzu kommt, dass Deutschland am meisten von dem aktuell milden Wetter profitiert. Taktisch hat der DAX also Rückenwind. Strategisch sollte der Gegenwind aber im Jahresverlauf wieder dominant werden.
Smart Investor: Ein wesentlicher Teil des sentix-Jahresausblicks sind die „10 Ideen für 2023“. Lassen Sie uns über China sprechen, vielleicht auch über Taiwan.
Hübner: China sehen wir 2023 positiver als andere Märkte. Das Ende der unsäglichen Zero-COVID-Politik wird zu einer Stimmungsaufhellung und Normalisierung beitragen. Zudem ist die Notenbankpolitik expansiver als in den USA oder Europa. Im „China Policy Sentiment“ ist bereits eine deutlich positive Indikation angelegt. Ein weiterer geopolitischer Konfliktherd in Taiwan ist leider nicht ausgeschlossen und bleibt uns hoffentlich aber erspart.
Smart Investor: Ziemlich positiv erscheint uns derzeit die Stimmung für Gold. In der Vergangenheit ging das selten gut. Müssen wir bei den Edelmetallen noch einmal mit einem Rücksetzer rechnen?
Hübner: Für uns bleiben Edelmetalle interessant, da sie neben einem Inflationsschutz auch ein Geldersatz außerhalb des Bankensystems sind und die Goldminen nur wenig in die Exploration neuer Stätten investieren. Wir erwarten in den ersten Monaten 2023 rückläufige Zinsen, was Gold und Silber ebenfalls antreiben dürfte, denn 2022 litt Gold erheblich unter dem Zinsanstieg.
Smart Investor: Wenn Sie neben der Mangelwirtschaft ein Feld benennen müssten, auf dem die Marktteilnehmer im Jahr 2023 vermutlich auf dem falschen Fuß erwischt werden, welches wäre das und warum?
Hübner: Ein überraschendes Element für 2023 hat sich bereits Ende 2022 gezeigt: nämlich die Kehrtwende der Bank of Japan, die sich nun ebenfalls dazu entschlossen hat, die langfristigen Zinsen ansteigen zu lassen. Dies dürfte sich auf die globale Liquiditätslage auswirken und vor allem den Yen erstarken lassen. Japanische Aktien sind damit nicht unsere erste Wahl.
Smart Investor: Vielen Dank für das interessante Gespräch.
Manfred Hübner ist Gründer und Geschäftsführer der sentix GmbH, eines Researchhauses aus Frankfurt, welches sich mit der Ermittlung und Interpretation der Anleger-einschätzungen beschäftigt. Der aktuelle sentix-Jahresausblick für 2023 steht unter dem Titel „Mangelwirtschaft“. Mehr Informationen finden Sie unter sentix.de.
Herr Hübner schreibt monatlich im Smart Investor die Kurzanalyse „sentix Sentiment“, die Sie in dieser Ausgabe auf S. 40 finden.